Der anstehende Sommer hat es in sich. In Deutschland wird uns eine Debatte ins Haus fallen über die Frage, welche Unternehmen nach der Lufthansa noch gerettet werden sollen. Und in Europa? Dort wird es fraglos vor allem um den Wiederaufbaufonds gehen. Emmanuel Macron und Angela Merkel hatten vor einigen Wochen den „Recovery Fund“ vorgestellt, den die EU-Kommission kurzerhand um 250 Mrd. Euro auf ein Gesamtvolumen in Höhe von 750 Mrd. erhöht hat. Es steht viel auf dem Spiel.
Das europäische Projekt war nie ein Nullsummenprojekt. Die EU hatte immer den Anspruch, mehr zu erreichen, als dies die einzelnen Länder für sich alleine könnten. Um diesen Mehrwert sollte es nun auch wieder gehen. Dazu brauchen wir eine offene Debatte. Statt zu polarisieren und zu moralisieren, müssen wir die Probleme und Schwächen der EU offen ansprechen und gemeinsam nach tragfähigen Lösungen suchen.
Offensichtlich wurden die Schwächen der EU während der Euro- und der Flüchtlingskrise. Der Schengen-Raum offenbarte bei seiner ersten wirklichen Bewährungsprobe seine labile Grundkonstruktion. Seine Grenzen hielten nicht Stand, als der Migrationsdruck 2015 stieg. Ähnlich ernüchternd ist die Bilanz der Währungsunion. Die heterogenen Mitgliedsländer einigten sich zwar auf eine Nicht-Beistandsklausel (Art. 125 AEUV), nicht aber auf eine geordnete Ausstiegsmöglichkeit eines Landes, die diese Klausel glaubwürdig gemacht hätte. Als die Eurokrise die Konstruktionsmängel schonungslos offenlegte, wurden Rettungsschirme aufgespannt, die Druckerpresse der EZB angeworfen und politische Durchhalteparolen kreiert. Zwar hatte die Politik „Rettungsgelder gegen Reformauflagen“ durchaus Erfolge. Grundsätzliche Widersprüche sind jedoch geblieben.
Mit dem 750 Milliarden Fonds droht die EU ähnliche Fehler zu wiederholen. Vor allem drei Punkte sehen wir kritisch:
Zunächst ist das Volumen des Fonds sehr groß, ja zu groß. Schon heute können die Kohäsionsländer bis zu 30 % der verfügbaren Gelder gar nicht nutzen, da die Projekte fehlen. Und doch will die EU-Kommission den bestehenden Haushalt um einen weiteren gigantischen Haushalt ergänzen. Gerechtfertigt wird das Volumen mit den immensen Mitteln, die gerade Deutschland seinen Unternehmen und Bürgern als Notfallhilfe und zur Konjunkturstimulation zur Verfügung stellt. Da sollen die anderen Länder nicht nachstehen. Doch Deutschland nutzt nur den Spielraum aus, den der Konsolidierungskurs der letzten Jahre eröffnet. Wenn jetzt Länder ohne einen solchen Spielraum ähnliche Mittel einsetzen, wird übersehen, dass auch die Finanzkraft Deutschlands und damit der Raum für grenzüberschreitende Umverteilung endlich ist. Eine Überlastung der ganzen EU droht.
Zweiter Kritikpunkt: Die Mittel des Wiederaufbaufonds sollen nur zu einem kleinen Teil in die Pandemie-Bekämpfung und in den Gesundheitsschutz der EU-Bürger gehen. Der weitaus größte Teil (560 Mrd. Euro) soll in eine „Aufbau- und Resilienzfazilität“ fließen, die laut EU-Kommission die Anpassungsfähigkeit der Mitgliedstaaten verbessern, die Konjunktur beleben, ein nachhaltiges Wachstum anschieben und so zu einem ökologischen und digitalen Wandel beitragen und gleichzeitig die Fairness in Bezug auf die sozialen Sektoren gewährleisten soll. Ob diese EU-typisch abstrakt und breit gefassten Kriterien eingehalten werden, sollen EU-Beamte überprüfen, wobei es keine verbindlichen Durchsetzungsinstrumente gibt. Allein auf das Europäische Semester zu setzen, ist auf Sand gebaut, weil die EU-Vorgaben hier eben nicht verbindlich sind. Die Gelder drohen in den (Sozial-)Kassen der Staaten zu versickern. Deshalb müssen mindestens dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rechnungshof wirksame Kontrollrechte eingeräumt werden.
Der dritte Hauptkritikpunkt stellt die Vereinbarkeit der neuen Wiederaufbauhilfe mit den Europäischen Verträgen in Frage. Der Vorschlag baut auf einem Notfallparagraphen (§122 AEUV) auf, der im Katastrophenfall einmalige Ausnahmen vom Verschuldungsverbot der EU erlaubt. Nur zielt der Vorschlag kaum auf Corona und seine Folgen, weder bei der Finanzierung, der Verteilung noch bei der Mittelverwendung. Um den Fonds zu finanzieren, soll die EU über die gesamte kommende Haushaltsperiode hinweg – immerhin sieben Jahre – Schulden aufnehmen, also auch dann, wenn wir Corona hoffentlich längst überwunden haben. Die Rückzahlung wird dann anderen Politiker- und Steuerzahlergenerationen überlassen. Die Verteilung der Gelder auf die einzelnen Mitgliedsstaaten richtet sich zum großen Teil nach einem Schlüssel, der sich auf die wirtschaftliche Entwicklung weit vor der Corona-Krise bezieht. Wer in den letzten Jahren bis 2019 viele Arbeitslose hatte, bekommt mehr Hilfe – mit Corona hat dies wenig zu tun.
Der Vorschlag der EU-Kommission würde zusammenfassend die bestehenden Widersprüche und Konstruktionsfehler der EU eher verstärken als mildern. Der Vorschlag der EU-Kommission würde die Verträge dehnen, statt sie an die großen Herausforderungen unserer Zeit anzupassen, die Schuldenlast auf künftige Generationen und die EU-Ebene verschieben, statt sie in den Mitgliedsstaaten zu reduzieren und Mittel für alle möglichen Projekte bereitstellen, statt sie gezielt mit einem europäischen Mehrwert einzusetzen. Vor allem würde der Fonds aber die Stabilität der EU insgesamt nicht erhöhen und uns nicht vor zukünftigen Krisen wappnen.
Zudem muss vielmehr die Frage, ob die EU mit ihren Mitteln mehr erreichen kann als ein einzelner Mitgliedsstaat alleine, die Richtschnur für die EU bei der Corona-Reaktion und darüber hinaus sein. Wie kann die EU zusätzliche Mittel in Projekte mit echtem Mehrwert lenken? Und noch wichtiger: Wie kann sie ihre Strukturen so anpassen, dass die EU ihren Bürgern genau diesen Mehrwert auch über die Corona-Krise hinaus liefert?
Um den Mehrwert zu finden, sollte die EU den Blick stärker von innen nach außen richten. Denn dort kann die EU ihre Stärken voll ausspielen: Bei der Erschließung neuer Märkte, im Umgang mit einem hohen Migrationsdruck, mit globalen Pandemien, Klimawandel oder mit Supermächten wie USA und China.
Kurzum, die EU muss weg vom abstrakten Ziel hin zu ganz konkreten Projekten, die allen Mitgliedsländern zu Gute kommen. Die Finanzierung dieser Projekte muss verknüpft werden mit strukturellen Reformen auf EU-Ebene, um die zentralen Konstruktionsfehler vor allem in der Währungsunion zu beheben.
Was es jetzt braucht, ist ein Reformprogramm bestehend aus fünf Komponenten:
1. Wir brauchen einen wirksameren, europaweiten Pandemie- und Katastrophenschutz. Alle EU-Bürger sind möglichst gut vor einer zweiten Pandemiewelle zu schützen: Mit Investitionen in medizinisches Gerät, Schutzausrüstung, Intensivbetten, Tracing-Apps, einsatzfähige Gesundheitsämter und Testkapazitäten – je nach Bedarf in allen EU-Ländern. Auch auf andere Katastrophen muss sich die EU besser vorbereiten.
2. Zusätzliche Investitionen in der EU sollten sich auf grenzüberschreitende Projekte wie den Ausbau der Energienetze, der digitalen Infrastruktur oder des europäischen Schienennetzes konzentrieren. Zudem ließen sich erhebliche neue Investitionspotenziale erschließen, indem europaweit die Planungs- und Genehmigungsverfahren vereinfacht, bürokratische und regulatorische Lasten vermindert und weitere Freihandelsverträge abgeschlossen würden.
3. Einen Riesenschub könnte die EU beim gemeinsamen Grenzschutz und beim Aufbau einer gemeinsamen europäischen Armee gebrauchen. Um FRONTEX zu einer echten europäischen Grenzschutzpolizei zu entwickeln braucht sie mehr Personal, mehr Kompetenzen und eine bessere Ausstattung. Bei der außen- und sicherheitspolitischen Kooperation können wir EU-Kompetenzen ausbauen, ohne nationale Kapazitäten zu beschneiden. Anders als bei der Währung kann etwa eine gemeinsame europäische Armee parallel zu den nationalen Armeen aufgebaut werden.
4. Die Finanzierung zusätzlicher Ausgaben im Zuge der Corona-Krise und der Neuausrichtung der EU sollte nicht auf kommende Generationen verschoben werden. Die Rückzahlung muss möglichst schnell beginnen, etwa indem neue Prioritäten im EU-Haushalt auch nach Corona fortbestehen oder in der Klimapolitik der europäische Emissionshandel auf die Sektoren Verkehr und Wärme ausgedehnt wird. Ebenso wie für zusätzliche Investitionen braucht es auch für zusätzlichen Klimaschutz nicht zwingend mehr Haushaltsmittel.
5. Um die Währungsunion dauerhaft auf stabilere Füße zu stellen, braucht es schließlich ein Restrukturierungsverfahren für Staaten, das auch ein geordnetes Ausscheiden aus dem Euro-Raum möglich macht. Nur dann würde der in den EU-Verträgen beschlossene Haftungsausschluss glaubwürdig. Es gäbe einen echten Anreiz für die Nationalstaaten, ihre Schuldenstände dauerhaft zu begrenzen und Strukturreformen umzusetzen. Die hochverschuldeten Länder werden einer solchen Reform nur zustimmen, wenn die EU ihren Teil zu ihrer Entschuldung beiträgt. Auch Länder wie Italien brauchen die Perspektive, mit einer tragfähigen Schuldenlast beim Neustart der Währungsunion dabei zu sein und vor allem auch dabei zu bleiben.
Die EU steht vor zahlreichen konkreten, gemeinsam zu bewältigenden Aufgaben, die Corona-Pandemie ist nur eine davon. Sie kann aber auch der Anlass sein, die EU viel besser auf eine zukunftsfähige Staatengemeinschaft mit gemeinschaftlichen Aufgaben auszurichten.
Dieser Namensartikel wurde am 17. Juli 2020 in der Rheinischen Post veröffentlicht